Baumbergers Reise ins Coronaland/12, Woche 11

Tag 61. Samstag, den 16. Mai

Nachbars haben am 11. eine Tochter bekommen. Judith wurde von Livia Andrea entbunden und der Vater strahlt über alle vier Backen! Freude herrscht am Hauweg.

Freund Matthias beschäftigt sich in seinem Blog mit dem Begriff „Verschwörungstheoretiker“, der sich u.a. sehr gut zur Stigmatisierung von Andersdenkenden eignet. Darin schreibt er: „Verschwörungstheorien sind gewissermassen ‚Infektionen des Kausaldenkens‘...In Verschwörungstheorien treten Monokausalitäten wie Karikaturen der praktizierten Wissenschaften in Erscheinung... Auffallend im Rahmen der Covid-19-Krise ist, dass Erklärungen aufgetischt werden noch längst bevor überhaupt ein einigermassen vollständiges Bild des Sachverhalts entstanden sein kann... Die Eile, mit welcher mit Erklärungen aufgewartet wird, ist ein Aspekt, der skeptisch stimmen muss“.

Eine neue solche Idee, die von – offensichtlich kleineren – Pharmafirmen rausgelassen wurde, bevor der Nachweis der Wirksamkeit erbracht wurde, ist die von Hyperimmungglobulin (klingt eindrücklich), das aus Blutplasma von geheilten Infizierten gewonnen wird. Jetzt wird erst mal Blut gesammelt, dann das Plasma hergestellt, das dann versuchsweise eingesetzt wird (bei leicht Infizierten, hat man diese dann), um eine Studie zu machen, nach der dann.... usw. usf. Die Grenze zur sich wissenschaftlich gebärdenden Scharlatanerie, die auf schnelle Profite schielt, scheint mir fliessend zu sein. Und die Tagesschau bringt es als grosse Meldung.

Die Spitäler wollen, dass ihre CV-bedingten Ertragsausfälle aus den Reserven der Krankenkassen ausgeglichen werden. Die haben ja nicht alle Tassen im Schrank. Strukturerhaltung aus Prämienreserven? Dafür sind diese nicht gedacht. Aber wenn schon solche Summen dasind, dann kann man ja mal den Versuch wagen. (Das sage ich als ehemaliger Kässeler.) Und wer weiss, vielleicht fallen die Einen oder Anderen darauf herein.

Koch vom BAG bleibt bei seiner Meinung: Masken für die Allgemeinheit bringen wenig.

Appenzell IRh (also Appenzell Giftklasse 1, wie wir für die bissigen Bewohner dieser Gegend zu sagen pflegen) hat zuerst die Landsgemeinde auf den August verschoben und nun abgesagt. Es muss brieflich gehen.

Velotürli am Morgen: Bichelsee-Oberwangen-heim. 20km, 1h5‘, schön und noch warm (Regen kommt).

Es ist Wochenende und damit Zeit für grosse Zeitungsinterviews der Wirtschaftsbosse.

Thomas Gottstein, der Chef von Credit Suisse und Nachfolger von Thiam, sagt voraus, dass die Dienstleister in Zukunft weniger Büroraum brauchen würden. Das CV habe dem Internetbanking einen kräftigen Schub gegeben, und das Arbeiten zuhause trage auch zu diesem Trend bei. Keine guten Nachrichten für die Immobilien in Stadtzentren. Die CS werde einen weiteren Teil der Niederlassungen abbauen. Wo Filialen wegfallen, ist offen. Gottstein erzählte auch, wie sie zur schnellen, unbürokratischen Lösung mit den Betriebskrediten gekommen sind. Die Bank habe vor einem komplizierten Überprüfungsverfahren gewarnt, da insbesondere viele kleine Firmen die aufwendige Buchhaltung gar nicht hätten, die einen schnellen Nachweis ermöglicht hätten. Daher wurde der Umweg über die Bürgschaft des Bundes gewählt.

Rolf Dörig, der Chef von Swiss Life, seinerseits rührt die Interessentrommel. Er ist aber vielseitig. Mal rauf, mal runter will er. Rauf mit dem Rentenalter der Frauen auf 65, runter mit dem Umwandlungssatz der Pensionskassen, auf wieviel sagt er da nicht.

„Er schrieb den schnellsten Corona-Roman“, titelt die Thurgauer Zeitung. Das Romanschreiben wird wohl bald olympische Disziplin. Die Sache erinnert mich an den berühmten Briefeschreiber, der sich beim Empfänger für die Länge des Briefes entschuldigt. Er hätte keine Zeit gehabt, einen kürzeren zu verfassen.

Im Streit um die Lauberhornfinanzen kommt jetzt der Skiverband Swiss Ski und verlang Defizitgarantien von Kanton und Gemeinden in der Höhe von einer halben Million. War die ganze Sache ein abgekartetes Spiel? Zuzutrauen wäre es den Schlaumeiern. Und die Politik dürfte darauf hereinfallen.

In Bern, Zürich und Basel wurden Kundgebungen von Massnahmengegnern durch die Polizei aufgelöst.

Gegen den Macron-Merkel-Plan hat sich Widerstand durch die „Vier Sparsamen“, Österreich, Holland, Schweden und Dänemark formiert. Sie wollen nur Kredite geben, nicht Budgetbeiträge.

Kopfrechnen unsererseits: Ich habe auch weiterhin aufmerksame Leser. Sowohl Nachbar Johnny Dammann, Freundin Rita Edelmann, Cousin Paul aus Kanada als auch Studienfreund Franz Wyss meinten, ich hätte mit 339 Mio Arbeitslosen in den USA etwas hochgegriffen. Während Johnny meinte, da sei ein Komma untergegangen, weist mich Franz auf die Gesamtbevölkerung der USA von 335 Mio hin und Rita fragt, ob da Rentner und Babys mitgezählt seien. Wer den Schaden hat... Was passiert ist: ein Doppelschlag auf der 3, den wir beide beim Durchlesen übersahen. Es sind 39Mio. Mea culpa.

Nachdem in der Region Lausanne mehrere wilde Machtes („matches sauvages“), organisiert offensichtlich von Spielern stattgefunden haben, ist nun die Ordnungsmacht auf eine einfache Lösung gekommen: Sie haben untertags einfach die Tore eingesammelt und mit Feuerwehrwagen abtransportiert.

Tag 62. Sonntag, den 24. Mai

Der Bund will für 200 Mio Impfdosen kaufen. Das Ziel ist, 60% der Bevölkerung zu impfen. Wenn wir dann mal einen Impfstoff haben, und wenn wir ihn bekommen.

Zu meinem Schimpfen über die Seuche der Anglizismen ist mir eine kleine Geschichte eingefallen, die mir mein Vater erzählt hat. Als er in der ersten Hälfte der 20er-Jahre die kaufmännische Lehre bei der Schuhwichsefabrik A. Sutter in Münchwilen machte, hatte er in der Schule des Kaufmännischen Vereins einen Deutschlehrer, der die Fremdwörterseuche sehr aktiv bekämpfte. Die Schüler hatten Schlauchapfel statt Banane zu schreiben etc. Dabei hat er wohl – dem deutschen Zeitgeist folgend – etwas übertrieben. Auf jeden Fall adressierte ein Schulkollege meines Vaters einen Brief mit „Thurgauer Kantonalbank, Tochtergesellschaft Sirnach“. Nun hatte aber leider der damalige Herr Verwalter, Schilling, keinen Sohn, dafür aber sieben Töchter. Und er nahm die Anschrift entsprechend persönlich. Es gab einen Riesenkrawall, da er meinte, von dem frechen Stift auf den Arm genommen worden zu sein. Der Lehrer musste dann zurückkrebsen, und mein Vater und seine Kollegen durften wieder Filiale schreiben, wie es sich gehört.

Chappattés Wochenrückblick oder –vorschau:

Velotour: Wilen-Kirchberg-Gähwil-Mühlrüti-Fischingen (Tee und Bier im Klostergarten)-heim. 32km, auf und ab. Halbsonnig, windig, kühl – schön.

Heute wurden 11 neue Fälle und keine neuen Verstorbenen gemeldet.

Am „Tourismusgipfel“ (was es nicht alles gibt in diesen Zeiten!) in Bern angedeutet, dass der Bundesrat am 8.6. die Bergbahnen laufen und die Campingplätze öffnen will.

Gewerkschaften und Arbeitgeber fordern gemeinsam, dass die Laufzeiten der Coronakredite massiv verlängert werden, und auch die Kurzarbeitszeitbeschränkung ausgedehnt wird.

Daniel Koch deutet an, dass Fussballspiele mit Zuschauern unter Einhaltung gewisser Regeln ab Ende Juni allenfalls möglich sein werden. Geisterspiele findet er nicht gut, denn sie fördern den Druck auf eine allgemeine Freigabe, die gefährlich wäre.

Tag 63. Montag, den 25. Mai

„Switzerland first“ heisst das Schlagwort des Investitionsprogramms, dass SP-Fraktionspräsident Nordmann präsentiert. Sprachliche Anbiederungsmanie und politische Dummheit in einem. Dass dies ein wahrhaftig roter Teppich für die Abschotter sein könnte, ist dem Herrn wohl nicht aufgefallen. Wenn auch die SP das sagt, dann werden die anderen ja wohl nicht so Unrecht haben...

Auch der Agrarlobby-Ritter, der Bauernpräsident, wittert Corona-Morgenluft und lanciert eine Breitseite gegen die Agrarpolitik 2022 des Bundes. Er bekämpft die Senkung des Selbstversorgungsgrads der Schweiz, ungeachtet (besser: unerwähnt) dessen, dass ein Beibehaltung massive Schäden an der Biodiversität, am Ökosystem und den Böden fortschreibt, wenn nicht verstärkt. Woher der Ritter der Bauern Unterstützung erhält, ist leicht auszumalen. Ob er für die Bekanntgabe dieser Politik extra ein neu gebügeltes Schwingerhemd angezogen hat, entzieht sich meiner Kenntnis.

Auch die Begrenzungsinitiative, mit der die Schweiz abgeschottet werden soll, fühlt Rückenwind. Da sind noch Anstrengungen nötig. Auch wenn die Leute an den Grenzzäunen wissen, worum es geht. Aber massgebend sind bei Vorurteilen ja immer jene, die nicht von der Sache betroffen sind, keine Kenntnis von der Wirklichkeit haben, die die Vorurteile als gegenstandslos zeigen könnten.

In Solothurn fanden die Literaturtage digital statt. Ein Experiment, das offensichtlich gelungen ist, auch wenn es so wie vor CV-Zeiten sicher schöner war. Der Star war einmal mehr lokal: Peter Bichsel, dem die Zuschauer dank der Kameras bildlich nahe kamen, wie sonst nicht.

Der Transithandel, Handel der nur durch Schweizer Bücher und über Schweizer Konten geht, bei dem also die Waren gar nie in die Schweiz gelangen, wächst durch bei uns angesiedelte Handelsmultis wie Glencore, Trafigura, Vitol, Mercuria und Gunvor in den letzten Jahren massiv. 37 Mia Umsatz sind es pro Jahr mittlerweile. Das bläst das BIP künstlich auf, da es nur wenige Arbeitsplätze schafft und die Gewinne vorab im Ausland wieder investiert werden. Gehandelt werden Öl und Erdgas (ein Fünftel bis ein Viertel des Weltumsatzes), Metalle, Kaffee, Baumwolle usw. Auch Pharmaprodukte werden neuestens im Ausland gekauft und gleich dort wiederverkauft, ohne die Schweizer Luft je gerochen zu haben. Und besonders bedenklich: Die Profite fallen bei sinkenden Preisen nicht, wie derzeit beim Erdöl, denn profitiert wird aus den Schwankungen der Preise, aus der Spekulation also.

Und daher ist es wohl wichtig, dass wir diesen Handelsmultis möglichst viele Steuervorteile verschaffen. Es sei denn, ich irre mich hier.

Japan hat den Notstand aufgehoben.

Es gibt 40 gefährliche Viren wie Covi19. Warum ist dieses gekommen, und nicht ein anderes?

Velotürli: Littenheid-Wilen-Wil-St.Margarethen (Corona-Abendessen im Freien bei Dora und Ali Koller)-heim. 22km. Schön, zuerst kühl, dann schöner Abend und kalte Heimfahrt.

In der, wie immer sehr lebhaften Diskussion mit Ali ist mir eines klarer geworden. In der Auseinandersetzung über die Angemessenheit der CV-Massnahmen werden sehr oft zwei Ebenen durcheinander gebracht, die es auseinander zu halten gilt: 1. der Einsatz und die Ausgestaltung von Notrecht einerseits und 2. die Richtigkeit der Massnahmen andererseits. Die erste Frage ist, ob Notrecht an sich gerechtfertigt ist, eingesetzt werden kann und soll, und wie es auszugestalten sei. Die zweite Frage ist, ob die unter Notrecht erlassenen Massnahmen angemessen sind oder nicht.

Zunächst also die Frage, ob das Notrecht notwendig und wie es zu handhaben ist. Soll der Bundesrat mit parlamentarischer Begleitung und Beratung handeln können, oder soll das Parlament mitbestimmen oder mitreden können? Wenn das letztere gilt, wo bliebe die Handlungs- und Entscheidungsfreiheit des Bundesrates? Und ist diese überhaupt nötig? Diese Dinge müssen in der nächsten Zeit diskutiert werden.

Die Angemessenheit der unter Notrecht erlassenen Massnahmen ist Inhalt der zweiten Frage. Dazu gehört z.B. auch die Einschränkung demokratischer Rechte wie die Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit, die nicht Notrecht per se ist, sondern unter Notrecht erlassen. Sie hätte ja durch Beschluss des Bunderates ausgenommen werden können. Hierher gehört ebenso die Beurteilung all der CV-spezifischen Massnahmen, deren Wirksamkeit oder Notwendigkeit sich aber erst im Nachhinein herausstellt, herausstellen wird. Wobei zu berücksichtigen ist, dass bei einem Bündel von Massnahmen über die Wirksamkeit einzelner Teile nur ansatzweise geurteilt werden kann, da sie sich gegenseitig beeinflussen.

Tag 64. Dienstag, den 26. Mai

Die Exporte und Importe sind in der CV-Zeit eingebrochen. Bei den Exporten ist das durchschnittliche Minus 11% (Uhren und Schmuck -70%, aber auch bei Pharma ist im April ein Einbruch). Die Importe gingen um 20% zurück.

Die Verfolgungs-Applikation geht jetzt ins Versuchsstadium. Meine Bedenken bleiben. Nicht nur die geringen Fallzahlen, die ja gar kein klares Bild aufkommen lassen können, sondern auch die fehlende Lohnfortzahlung für die freiwillig in Quarantäne gehenden Personen. Jetzt fordert der eher unsägliche Herr Salathé, der Epidemiologe aus Lausanne, der die Sache vorantreibt und immer telegen im Rampenlicht steht, dass der Bund ein Gesetz erlassen müsse, das dies regelt. Ein eigenes Gesetz wozu? Für die Ausnahme von der Ausnahme? Ausserdem verspricht er vollmundig, dass, wenn 60% der Bevölkerung die App runtergeladen hätten, die Epidemie unter Kontrolle gehalten werden könnte. Da fragt sich der geneigte Leser: Haben wir überhaupt so viele Handys in der Schweiz? Es müssten ja bei gut 8 Mio Einwohnern fast 5 Mio applikationsfähgige Natels sein. Und: runtergeladen ist noch lange nicht genutzt. Denkt denn da keiner mit? Weiterhin viel Lärm um Nichts!

Auch auf anderem Gebiet macht sich Salathé bemerkbar, wenn er schon am Fernsehen wieder einmal eine Gelegenheit erhält: „Der Epidemiologe Marcel Salathé befürwortet eine Lockerung der Abstandsregel im Freien. Abstand bleibe grundsätzlich wichtig, sagte Salathé am Montagabend in der SRF-Sendung ‚10vor10‘. Eine ‚Sardinen-Situation‘ sei also weiterhin zu vermeiden, aber eine Lockerung der 2-Meter-Regel im Freien sei angezeigt. Eine konkrete Empfehlung, welcher Abstand gelten soll, machte Salathé nicht. Manaus, der brasilianischen Grossstadt am Amazonas, von wo aus wir 2010 eine dreitätige Amazonasfahrt auf einem Postschiff nach Belem gemacht haben, geht es miserabel. Auch die Urwaldgebiete der Umgebung leiden sehr stark.

Das Arbeiten zuhause lässt die Nachfrage der Arbeitgeber nach Software, die die Mitarbeiter kontrolliert, sprunghaft ansteigen (verdreifacht). Mit dieser werden sie bis ins Detail über die Arbeitsplattformen ausspioniert. Das läuft heute schon in vielen Firmen an den traditionellen Arbeitsplätzen. „Bis auf die Unterhose überwacht“ titelt die NZZ: https://www.nzz.ch/schweiz/ueberwachung-am-arbeitsplatz-firmen-sammeln-daten-im-homeoffice-ld.1557068 Und da soll mir dann noch einer erzählen, die Verfolgungsapp sei rein privat!

„Die Lufthansa wird teilverstaatlicht“, heisst es in der Zeitung. Gegen eine stille, verzinste Einlage von 5,7 Mia€ und eine Bürgschaft von 3 Mia erhält die Bundesrepublik 20% der Aktien und eine Option von 5% + 1 Aktie (insgesamt dann Sperrminorität nach deutschem Recht), falls eine feindliche Übernahme droht. Der aktuelle Börsenwert der Lufthansa ist im Keller und betrug am Freitag insgesamt 3,7 Mia€. Da ist die Swiss besser weggekommen, die Schweiz mischt sich weniger ein, geht mehr Risiko.

Wie US-Pharmafirmen (auch andere?) in China ihre Waren verkaufen: Die Verkäuferin muss die Waren zuerst auf eigenes Risiko übernehmen und dann weiterverkaufen. Erreicht sie das sportliche Verkaufsziel, erhält sie die verabredete Entschädigung, liegt sie darüber, gibt es einen Bonus, erreicht sie es nicht, einen Malus. Letztes Jahr war der Bonus 70‘000 Yuan oder rund 10‘000 Franken. Dieses Jahr wurde zwar die Vertragsentschädigung erhöht, gleichzeitig auch das Verkaufsziel, und es sieht unsicher aus. No risk, no fun. Für wen?

Ein Leserbrief in der Thurgauer Zeitung erinnert im Zusammenhang mit Trump an den Spruch über einen Thurgauer Regierungs- und Ständerat (damals war die Personalunion für ein Mitglied der Regierung noch möglich) aus den 50er- und 60er-Jahren. Müller hiess der Mann, war aber im ganzen Kanton mit seinem Vulgo aus unserer Verbindung als „Sprudel“ bekannt, denn er war wirklich überfliessend. Über ihn sagten wir: „Wie soll ich wissen, was ich denke, bevor ich höre, was ich sage?“ Für solche Menschen ist mir immer das Bild gekommen, dass sie eine Direktverbindung vom Rückenmark zur Zunge haben, eine Abkürzung ohne den Umweg über das Gehirn. (Wobei der Vergleich mit Trump dem guten Sprudel unrecht tut, denn er war wirklich als Regierungsrat recht, was bei uns im Thurgau ein hohes Kompliment ist.)

Vor einigen Tagen bekam ich Lust, wieder mal Französisch zu lesen, und ich nahm mir Dumas vor, „Les trois mousquetaires“ und „Le comte de Monte-Christo“. Es ist ein Genuss in den Zeitformen herumzubaden, die Dumas damals exzessiv anwendete. Und da kam mir dann wieder unser Franzbuch der Sekundarschule, der Hösli, in den Sinn, mit seinem unsäglichen Jean Bouvier. „Voici Jean Bouvier. Il est un élève bien sage. Il se lève tôt. Il se lave à l’eau froide, usw. usf. “ Um dann im imparfait auf die ferme de son oncle nach Grandchamps zu gehen, wo er diesen Unsinn anstellte, und im passé simple wieder heimzukehren, wo er sich wieder mit so wichtigen Sachen wie règle (Lineal) und pupitre (das Pult, das wir aber als Federschachtel lernten) beschäftigte. All diesen Blödsinn, um dann in der Oberrealschule in Frauenfeld festzustellen, dass die Kollegen, die im Nachbardorf mit dem Müller ausgebildet worden waren, eine viel bessere Grundlage für das Franz hatten.

Velotürli: Bichelsee-Oberwangen-Andwil-Hofen-heim. 20 km, 1h05. Windig aber trocken.

Eine Umfrage zeigt, dass – kurzfristig? – recht grosse Zufriedenheit mit der Arbeit zuhause herrscht. Allerdings sieht es so aus, dass zukunftsträchtig eher ein gemischtes Modell ist, bei dem ein Teil der Woche zuhause, ein Teil im Büro gearbeitet wird, da der Kontakt zu Arbeitskollegen nicht aufgegeben werden will. Und es stellen sich Fragen der Entschädigung von Miete, Infrastruktur wie Büromöbel, EDV etc.

Es zeichnet sich nach der Affäre Lauber und der damit verbundenen Einstellung von Verfahren gegen Fifa-Funktionäre eine weitere Pleite der Bundesanwaltschaft ab (die allerdings auch mit den Eigenheiten unseres Rechtssystems zu tun haben könnte). Die von VW durch den Diesel-Betrug Geschädigten werden Jahre warten müssen, bis ihre Klagen entschieden werden. Bisher ermittelt die Bundesanwaltschaft seit rund 5 Jahren und ist nicht fertig. Es geht um über 150‘000 Autobesitzer. In Deutschland erhalten die Leute jetzt ihr Geld.

Italien öffnet seine Grenzen am 3.6., Deutschland lässt seine Bürger am 15. Juni ausreisen.

Die Bundesregierung in Berlin unterstützt die Deutsche Bahn mit 5,5 Mia €.

Im Garten ist die erste Pfingstrose offen. Der Sommer beginnt.

Tag 65. Mittwoch, den 27. Mai

Wir nähern uns wieder normaleren Zeiten. Heute will der Bundesrat den dritten Lockerungsschritt bekannt geben, den grössten. Und schon am Morgen steht in der Zeitung, was er untertags beschliessen will.

Die Einsperrung der Senioren wird vermehrt zum Thema. So hält das städtische Alterszentrum Laubegg in Zürich die Insassen – das sind sie wirklich – wie in Gefangenschaft. Halbgefangene haben es besser, sie dürfen ausgehen. Die Insassen nicht. Wer sich über das Ausgehverbot hinwegsetzt, wird 10 Tage in sein Zimmer eingesperrt, und muss 10 Franken für zusätzliche Serviceleistungen bezahlen. Pro Mahlzeit! (Das wäre bei meiner Mutter vor 10 Jahren etwa 40% des Pensionspreises zusätzlich gewesen.)

Ungarn hat den Ausnahmezustand aufgehoben.

Sprachschludereien, wohin man blickt. Da kennen sie den Unterschied nicht zwischen genervt und entnervt. Der Poilitiker ist genervt und nicht entnervt. Ebenso wenig wird der Unterschied zwischen gehenkt und erhängt beachtet. Der Präsident wurde von den Massen gehenkt oder zumindest aufgehängt, nicht erhängt.

Velotour nach Winterthur: Bichelsee (Ort)-Bichelsee (See)-Thurbental-Sennhof-Töss-Stadt (Tee kaufen)-Seuzach (Corona-Nachmittag bei Hedy und Wolfgang Günther)-Wiesendangen-Elgg-Etten-hausen-Eschlikon-heim. 74 km. Wunderschönes Wetter.

An der Töss habe ich ein Wiesel gesehen. Es wollte aus dem Gebüsch in die Wiese, war mitten auf der Strasse, als es mich sah, machte rechtsumkehrt und verschwand wieder in den Blättern. Wieselflink.

Der erste Schnitt ist gemacht, das Heu meist schon eingebracht. Es war vom Wachstum her ein guter Mai.

Wie wir so durch das Dorf heimfahren, geht mir durch den Kopf, es sei schon schön, am Ort alt zu werden, wo ich jung war. Strassen, Häuser, Bäche, Wegweiser, Über- und Unterführungen, Plätze – alle sind von Erinnerungen geprägt, verknüpft mit Ereignissen und Menschen aus über 60 Jahren Leben in Sirnach. Guten und Bösen. Eine Sicht, in die Elo natürlich nicht eingeschlossen ist .

Damit will ich keinesfalls einer Heimatromantik das Wort reden. Romantische Verklärungen sind schon immer ein Nährboden von fürchterlichen Ideologien und Politiken gewesen, früher und heute. Wer nie länger aus den – engeren oder weiteren – vier Wänden seiner Heimat rausgekommen ist, für den wird sie gerne zum Gefängnis.

Ich muss das von meinem Vater haben: Er lebte als Junger über 4 Jahre im Ausland und kam dann (eigentlich auf Drängen seiner kranken Mutter) wieder zurück ins Dorf. Das war aber ein bewusster Schritt, und so hat er Heimat gewählt, wurde nicht von ihr überwältigt. Das liess ihn immer eine kritische Distanz gedankliche Unabhängigkeit beibehalten. Darin war er mir Vorbild.

Der Bundesrat hat den nächsten Lockerungsschritt bekannt gegeben. Das wichtigste: Am 19.Juni ist die „ausserordentliche Lage“ beendet. Das Notrecht wird stark zurückgefahren, die Kantone werden vermehrt einbezogen. Wie weit die unter Notrecht erlassenen Bestimmungen weiter bestehen, wird noch diskutiert werden.

Dann wurde unter dem Motto „Neue Normalität“ eine ganze Latte von Teilmassnahmen verkündet. Die wichtigsten sind (hier sehen wir, was wir alles nicht gedurft haben im Hoch der CV-Beschränkungen):

  • Stichtag ist der 6.6., sofern nicht etwas anderes gesagt wird.
  • Abstand halten und Hände waschen gelten weiterhin. Der Abstand bleibt bei zwei Metern.
  • Masken sind in ÖV-Stosszeiten empfohlen.
  • Es gibt Schutzkonzepte für Branchen, ÖV, Schulen.
  • Ab 1.6. darf wieder, mit Schutzkonzept, Unterschriften gesammelt werden
  • Die Ü65 dürfen wieder in die Öffentlichkeit (durften wir das bisher nicht?) und Enkel hüten (haben wir nicht).
  • Arbeiten zuhause wird empfohlen, das Meiden des ÖV in Stosszeiten ebenso.
  • Die Obergrenze von vier Personen in der Beiz wird aufgehoben, wenn es mehr sind, müssen Kontaktdaten (mindestens eine Person) angegeben werden. Der Zweimeterabstand bleibt. Bars dürfen öffnen (maximal 300 pro Lokal. Abstand???). Die CV-Polizeistunde um 24h bleibt. Billiard oder Live-Musik ist erlaubt. Essen und Trinken sind nur sitzend erlaubt.
  • ab dem 6.6. sind spontane Versammlungen bis 30 Personen erlaubt. Private Veranstaltungen bis 300 Teilnehmern ebenfalls. Der Abstand ist zu wahren. Bis Ende August wird nicht auf 1000 Teilnehmer gelockert.
  • Kinos und Theater öffnen, wenn jeweils ein Sitz frei bleibt.
  • Schwimmbäder werden geöffnet. Dito Campingplätze.
  • Zoos und andere Freizeitanlagen sind offen.
  • Bergbahnen und Schiffe können wieder fahren.
  • Sporttrainings sind erlaubt. (Auch Turnvereine?)
  • Der Präsenzunterricht an höheren Schulen ist erlaubt.
  • Chorproben mit Abstand und Kontaktdaten sind erlaubt.
  • Gottesdienste sind wieder möglich.
  • Die Einreisebeschränkungen werden ab 8.6. gelockert. Ab 15.6. soll der freie Personenverkehr mit Deutschland, Frankreich und Österreich möglich sein. Mit Italien wird noch verhandelt. Am 6. Juli ist vorgesehen, die Grenzen für den ganzen Schengen-Raum zu öffnen.

Die Engländer spinnen im Quadrat. Ein Beweis gefällig? Ein aktuelles Bild vom Strand in Bornemouth:

Die NZZ hat einen sehr bissigen, fundamentalistischen Kommentar, der sich über den Begriff der „Neuen Normalität“ des Bundesrates aufregt. Der Begriff kaschiere das, was der Bundesrat wolle. „Nur wer Zentralisierung – das heisst: die Verlagerung von Kompetenzen von den Kantonen an den Bund – von seinem Weltbild her ohnehin bereits gutheisst, spricht von ‚neuer Normalität‘....Globalisierungskritiker und Sozialisten vereinen sich freudig mit den rechten Abschottungsideologen. Ob bei medizinischen Gütern, Munition (Ruag), Kartoffeln oder Karotten: überall ist plötzlich von Autarkie und Selbstversorgung die Rede. Und bezahlen soll der Staat. Willkommen in der Planwirtschaft 2.0. Man kann es nicht genug betonen: Die medizinische Corona-Krise ist jetzt vorbei. Aber die vom Virus herbeigeführte Krise der Freiheit und der freien Marktwirtschaft steht vor der Tür. Liberale: Traut niemandem, der von ‚neuer Normalität‘ redet.“ Wildgewordene Marktideologie pur.

Überhaupt hat die NZZ offenkundig Mühe mit dem zurzeit recht erfolgreichen Bundesrat. Dass die Entscheide der Regierung kritisch kommentiert und durchleuchtet werden müssen, versteht sich von selbst. Aber kleinliche Mäkeleien sind an der Tagesordnung und dabei nicht hilfreich. Ob auch hier die Ideologie den Herren den Blick verschleiert? Ist ihnen unangenehm, dass es die Konstellation ergibt, dass zwei Sozialdemokraten das öffentliche Bild prägen, die – in der Führung des Gremiums sehr erfolgreiche – Simonetta Sommaruga und der Chef des Dossiers Alain Berset?

Die EU-Kommission schlägt ein Finanzpaket von 750 Mia € vor, 500 Mia als Hilfen, 250 Mia als Kredite an die Länder. Dazu sollen Anleihen aufgenommen werden, deren Mittel dann an die Länder weitergegeben werden. Die „Vier Sparsamen“, die mit dem Teil, der als Kredit vergeben wird, berücksichtigt wurden, sind vorsichtig zurückhaltend. Die Kuh ist noch nicht vom Eis, auch wenn es sonst breite Zustimmung gibt. Frau van der Leyen hat da noch einige Arbeit vor sich.

Als Twitter erstmals den Wahrheitsgehalt eines Trump-Tweets infrage stellt, droht dieser, die sozialen Medien zu schliessen. Soll er mal. Viel Schaden brächte das eh nicht.

Auf Ende Monat tritt Daniel Koch, das Sprachrohr des BAG in der CV-Zeit endgültig zurück. Er hat gut gearbeitet. Bundesrat Berset begleitet ihn auf dessen Weg in den Ruhestand:

Tag 66. Donnerstag, den 28. Mai

Die Entscheide des Bundesrats werden mehrheitlich mit Genugtuung aufgenommen, aber natürlich auch kontrovers diskutiert. Die Wirte hätten gerne weniger als zwei Meter Abstand, die Tourismusorganisationen mehr Öffnung, die Fussballclubs und grossen Konzertsäle wie das KKL in Luzern mehr als 300 Teilnehmer pro Veranstaltung.

Aber haben wir doch einen grossen Schritt gemacht, und, wie Bundespräsidentin Sommaruga sagt: „Vieles ist möglich“. Wie das dann im Einzelnen abläuft, müssen wir sehen, so in Bars und auf Liegewiesen, vor der CV-Polizeistunde und nachher.

Wir landen also in der Neuen Normalität.

Unser Bewegungsprofil in der Coronazeit (für alle Tracker, Tracer, Verfolger aufgelistet):

  • ÖV 0 km
  • Auto <20 km
  • zu Fuss (27 mal) >100 km
  • mit dem Velo (440 mit dem alten, 780 mit dem neuen) >1200 km

Elo geht heute das erste Mal zum Coiffeur. Nicht dass eine Dame von ihrem Aussehen das nötig hätte, aber ein wenig kürzer ist ein wenig mehr.

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Mit der Rückkehr in die Neue Normalität ist die Rückreise aus Coronaland vorbei. Und damit auch meine Berichterstattung über die Reise. Ich höre auf, bevor aus der Schreiblust eine Schreiblast wird.

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Mir hat die schreibende Verarbeitung dieser Zeit gut getan, von einigen Lesern hatte ich auch Echo, was mich freute. Aber jetzt rückt wieder Anderes in den Fokus.

Natürlich hört die CV-Zeit nicht einfach auf. Aber die Dichte der CV-Ereignisse wurde schon länger geringer, und das wird weiter so gehen. Bemühend soll die Berichterstattung nicht werden.

Vielleicht mache ich dann mal einen Monatsrückblick Ende Juni oder so, den ich meiner Leserschaft zukommen lasse. Aber das muss sich zeigen. Und vielleicht kommt es ja auch ganz anders, denn eines ist sicher: Wir wissen sicher Vieles nicht. Überraschungen werden Normalität sein.

Und wie sich unser Land, unsere Gesellschaft in der Nach-CV-Zeit entwickelt? Ob die „Neue Normalität“ so neu sein wird? Ob sich so viel ändert, wie prophezeit, gehofft, befürchtet wird – ich glaube es nicht.

Aber: Lassen wir uns überraschen.

Adie mitenand! ¡Hasta la vista! So long! Salut! Zai jian! Tschüs! Ciao!

28.5.2020/JB.