Reise ins Coronaland/6

Tag 29. Karsamstag, den 11.4.

Ich gehe zum Bäcker und hole Bestelltes. 8 runde Halbpfünderli Ruchbrot, ein Kernenbrot wie gewöhnlich und, weil er so schön aussieht, ein Stück vom grossen Zopf. Vor dem Laden eine kleine Schlange. Während wir warten, kommen Gespräche in Gang wie sonst nicht beim Einkaufen. Dann geht es im Rhythmus one-out-one-in ins Geschäft, einer raus, einer rein. Alles sehr manierlich und freundlich, fast freundschaftlich in der Schicksalsgemeinschaft der CV-Begrenzten. Solidarisch auf jeden Fall.

Gymnastik gemacht, mit Beatles-Musik, die das sehr erleichtert.

Velotürli: Via Anwil nach Littenheid – über Gloten nach St.Margarethen – heim. 22,4 km, Vø 17,0, Vmax 42,4, 1h19. Schön, leichter Wind.

Es hat am frühen Nachmittag noch wenig Fussgänger, aber viele Velos und Töffs. Elo meint, letztere seien Kunden für die Blockierung von Intensivstationen, denn viele fahren unvorsichtig. Wir kennen auch vorsichtige, gell Franz!

Ein Digitalfritze fabuliert über ein Videoparlament. Er äussert sich darüber, ob das machbar sei. Die Frage, ob es auch sinnvoll wäre, kommt gar nicht erst auf. Er hat ja auch in einem Buch über eine digitale Landsgemeinde fabuliert, in der das Volk via Video sich in die Beratungen der Volksvertreter – ja, das sind sie, Vertreter des Volkes – einmischen könnte. Blocher&Cie würden sich freuen, das wäre ja noch besser, als die Direktwahl des Bundesrates, die plebiszitäre Demokratie par Excellence! Der Digitalfritze mag zwar von Bits und Bites eine Ahnung haben, aber sicher nicht von der Schweizer Demokratie.

Die Kirchen sind leer, ganz leer. Der Petersdom zum ersten Mal in seiner langen Geschichte. Früher wurden bei Epidemien noch Bittgottesdienste veranstaltet und Prozessionen, so im alten Rom wie im alten Byzanz. Aber das ist vorbei in einer Zeit, in der wir uns – zum Glück! – von der Wissenschaft leiten lassen.

Der Populist Matteo Salvini ruft nach Öffnung der Kirchen, wird aber vom Chef der italienischen Bischofskonferenz eines Besseren belehrt.

Oberammergau muss seit 387 Jahren sein in einem Pestjahr abgegebenes Gelübde, regelmässige Passionsspiele abzuhalten, das erste Mal brechen.

Der Pfarrer des Grossmünsters mutiert durch Covid19 zum Alpenmuezzin

Elo wünscht sich für die Musik, die wir gerade laufen lassen Johnny Cash. Ich finde das zwar nicht modern, denn eben gilt No Cash nur Twint. Aber folgsam, wie ich bin...

Der erste Gipfel der Ansteckung könnte erreicht sein, meint sogar der vorsichtige Daniel Koch. Auch in den Spitälern des geplagten Tessins nimmt die Zahl der beatmeten Patienten leicht ab. Aber, so Koch, es ist weiterhin Vorsicht geboten, die Massnahmen gelten weiterhin.

Der Stromverbrauch ist um 15% zurückgegangen, in den Städten um 20%, auf dem Land um 5%. (Der Beitrag von Stadt und Land ist ein Hinweis sowohl auf die Siedlungsstruktur als auch auf die Lebens- und Arbeitsgewohnheiten im Land.)

Die Grenzen sind weiterhin zu.

Hier sind wir an einem so schönen Frühlingstag jeweils mit dem Velo von Kreuzlingen nach Konstanz

Donald Trump kann zwar den Ostertermin für das Back to Normal nicht halten (er hätte jetzt noch einen ganzen Abend Zeit), aber er fabuliert immer noch von der baldigsten Rückkehr. Im Angesicht von stark steigenden Infektionszahlen und über 2000 Corona bezogenen Todesfällen pro Tag. Trump hat einen ihm eigenen Sprach- oder besser Sprechfehler, leidet an sprachlicher Verarmung. Es fehlen ihm Steigerungsformen. Positiv und Komparativ sind ihm unbekannt. Er kennt nur den Superlativ. Die besten Leute würden ihn beraten (wenn sie ihn enttäuschen, sind es die übelsten Übeltäter), es ist die schwierigste Entscheidung seines Lebens etc. pp.

Da macht es der Kanzler in Wien dann wenigstens europäisch-christlicher. Er spricht von der Auferstehung Österreichs nach Ostern. Geschmacklos aber auch diese Analogie. Freund Silvan Lüchinger, ein Ex-Kollege von Elo, formuliert: „Kurz fackelt nicht lang.“

Bill Gates wollte Trump übrigens vor zwei Jahren dafür gewinnen, einen starken Impfstoff gegen Pandemien zu entwickeln. Er bekam von DT einen Korb.

Reiche indische Kinder sind zu bedauern. Die Jugendliche im Bericht aus einem besseren Hause muss jetzt das Abwaschen lernen. Sie tut es über Youtube.

Bundesrat Berset bringt uns in einem Interview auf leisen Sohlen den Gedanken näher, dass wir dann Ende Monat doch für gewissen Situationen Masken tragen müssten. Freunde von uns haben bereits einen kleinen Vorrat angelegt. Wir nicht. Auf der Website der „Zeit“ gibt es eine Videoanleitung, wie man Masken basteln kann, ganz ohne Nadel und Faden: https://www.zeit.de/video/2020-04/6148291776001?wt_zmc=sm.ext.zonaudev.mail.ref.zeitde.share.link.x

Unsere Zukunft im Zug? Hoffentlich nicht.

Das Terminal E am Flughafen Kloten (Langstreckenflüge) ist geschlossen.

Der Wochenmarkt in Frauenfeld bleibt geschlossen.

Herrschende: In Nicaragua ist Präsident Ortega wieder mal abgetaucht. Er hat noch keinerlei Massnahmen veranlasst. In Saudi Arabien ist die Königsfamilie in Panik. Der König auf einer Insel, die Herrschenden irgendwo im Norden.

Die SBB-Chefin verspricht, die Preise fürs Zugfahren auf Jahre hinaus nicht zu erhöhen. Qui vivra verra. Buchstäblich.

Zoom boomt. Die Firma, deren Programm Videokonferenzen ermöglicht und unterstützt, sieht sich massiven Vorwürfen ausgesetzt. Es können sich Dritte leicht in die Konferenzen einschleichen und z.B. rassistische Inhalte einblenden. Taiwan, die Nasa, Google, die Bildungsbehörde von New York haben die Nutzung von Zoom verboten. Das bestärkt mich in meinem generellen Misstrauen gegenüber social media. Und das ich ja auch gegenüber der jetzt so stark propagierten Annäherungs-Beobachtung (Approximate Tracing Apps) hege. Anonym. Glaub’s wer’s will.


Tag 30. Ostersonntag, den 12.4.

Jetzt haben wir also einen Monat hinter uns seit Freitag, dem 13.

Gestern meinte Schwester, sie würde uns dann schon gerne wieder einmal umarmen. Heute beim Aufwachen wurde mir erst klar, was sie, bewusst oder unbewusst, meinte. Alle Eingeschlossenen, die, wie eben meine Schwestern oder meine Cousine, alleine Leben, müssen völlig auf Körperkontakte verzichten. Dafür ist der Mensch definitiv nicht gebaut. Wir brauchen diese Kontakte als eine unserer Ausdrucksformen, mit der wir mehr sagen können, als mit Worten. Nonverbale Kommunikation, wie das hochgestochen heisst, ist eben mehr als Blicke und Gesten, die körperlichen Kontakte gehören genauso dazu, sind essentiell, wesentlich, notwendig.

Diese Gedanken knüpfen an solche an, die ich schon lange habe. In unserer Zeit werden sehr oft körperliche Kontakte zu Kindern tabuisiert. Jedes Streicheln, in den Arm nehmen ist ein potentieller Kindsmissbrauch. Lehrerinnen und Lehrer können ein Lied davon singen. Dass sie nicht mehr prügeln dürfen, wie wir es noch erlebt haben, ist ja gut. Aber dass sie Kinder nicht mehr in den Arm nehmen, ihnen Sicherheit geben oder sie trösten dürfen, ist schlecht. Und so wachsen die Kinder auf mit einem grossen Defizit an Körperlichkeit. Der Körper anderer wird ihnen fremd, und wir wundern uns, wenn sie, sind sie grösser, diese Körper als Sache betrachten, wie andere Sachen auch. Zu beobachten, wenn Jugendliche (beiden Geschlechts!) nach einem Kampf auf wehrlos am Boden liegende eintreten, gefühllos, hat man den Eindruck.

Es ist sehr trocken in diesen Tagen. Nachdem wir Februar/März schön Regen hatten und sich das Grundwasser erholte, fliesst nun viel zu wenig Wasser ins Mittelland. Unter 1800 Metern war wenig Schnee, erste tiefe Stauseen trocknen schon aus. Ich muss neu gesetzte Pflanzen, Rosen und Pfingstrosen giessen.

Die Auguren, die ja immer warnen müssen, warnen vor vielen Konkursen von KMU-Betrieben.

Der frühere Nationalbankpräsident Philipp Hildebrand, Vizepräsident der grössten Aktien-Fonds-Gesellschaft, („Vice-Chairman“ heisst das heute), lobt den europäischen Sozialstaat-Gedanken als Basis für einen erfolgreichen Umgang mit den CV-Problemen: „Das europäische Staatsverständnis mit seinen soliden sozialen Netzen und Strukturen ist jetzt ein immenser Vorteil... Über Jahre habe ich auch persönlich erlebt, wie uns die Amerikaner erklärten, dass wir unsere Wirtschaft nach ihrem Vorbild umbauen sollten. Doch diese einseitige Ausrichtung auf den Kapitalmarkt und die kurzfristige Gewinnmaximierung wird jetzt zum Problem. Der amerikanische Staat will den Firmen zwar Geld zur Verfügung stellen. Doch hat er Mühe, effektive Kanäle zu finden, um sicherzustellen, dass das Geld bei den wirklich Betroffenen ankommt.“ Für die Schweiz macht er als Vorteil aus: „Wir bewältigen das absolut demokratisch, ohne den Unsinn von autokratischen Staatsmännern mit grossen Egos.“

Bundespräsidentin Sommaruga erklärt im Sonntags-Blick, eine völlige Lockerung für eine Bevölkerungsgruppe und eine vollständige Abschliessung einer anderen komme für den Bundesrat nicht in Frage. Das ist beruhigend.

Elo meint, wir könnten ja die Nichtrisikogruppen isolieren und uns freilassen. Aber dann müssten wir wieder an die Säcke und die Wirtschaft wieder hochfahren. Ob wir das noch könnten, ist eher fraglich, für irgendwas sind wir ja pensioniert.

Eine veritable Breitseite gegen den Umgang der Schweiz mit dem Covid19-Virus feuert der Medizinprofessor Paul Robert Vogt, Chirurg, in der Onlinezeitung Die Mittelländische (ehemalig Grenchner Zeitung GZ) ab. https://www.mittellaendische.ch/2020/04/07/covid-19-eine-zwischenbilanz-oder-eine-analyse-der-moral-der-medizinischen-fakten-sowie-der-aktuellen-und-zuk%C3%BCnftigen-politischen-entscheidungen/ Der lange Artikel verwirrt mich etwas, da Vieles kommt, das ich auch schon andachte, bei anderem aber mir die Plausibilität nicht immer einsichtig ist. Dass Vogt als Chirurg jeweils genau weiss, wo der richtige Schnitt anzusetzen ist, wo Gott hockt, gehört zu seiner Zunft. Aber es gehört ja auch zur intellektuellen Ehrlichkeit, sich von Zeit zu Zeit einmal neben sich zu stellen und sich von der Seite anzusehen. Der neue Blickwinkel bringt oft Erstaunliches an den Tag. Nicht immer nur Erfreuliches.

Was die Tempo-Konsumgesellschaft allgemein so verschlingt am Beispiel „The Food Diet“ von Dan Ba nnino, der hier die bevorzugten Speisen und Getränke eines bekannten Staatsführers im Stil der alten Holländer inszenierte:

Jetzt haben ja auch die jungen dynamischen Teams (sie haben zwischen 1 und XXX Mitglieder) Zeit, anständig zu essen. Und das tun sie anscheinend auch. Hoffentlich erinnern sie sich auch daran, wenn sie wieder voll im Make money-Tramp eingespannt sind.

Die Firma Swissport droht, bis im Frühsommer werde ihr das Geld ausgehen. Swissport, eine ehemalige Swissair-Tochter, die Abfertigung und Wartung auf Flughäfen weltweit macht, hat ausser dem Namen mit Schweiz nicht mehr viel zu tun, auch wenn sie natürlich in Kloten aktiv ist. Sie gehört jetzt Chinesen.

Auch eine Chinesin kauft sich den serbelnden Traditions-Fussballclub Grasshoppers. Jenny Wang aus Schanghai, die Frau des Tycoons Guo Guangchang. Er besitzt schon die Wolverhampton Wanderers in England. Heuschrecken kaufen Heuschrecken. C’est la réalité d’aujourd’hui, today’s reality, die Wirklichkeit von heute – in der globalisierten Welt, in der nicht nur Viren sondern vor allem auch das Kapital volatil ist, die Welt in Null-Komma-nichts durchquert.

Da hat doch gestern der Bundesrat, so die Zeitung, wieder irgendetwas „kommuniziert“. Kommuniziert? Denkste! Mitgeteilt hat er, was ja auch seine Pflicht ist. Die Verwendung von „kommunizieren“ durch die Kauderwelschmanager hat mich schon vor Jahrzehnten gestört. Wenn A.E., der die gute alte Krankenfürsorge Winterthur KFW zuerst zur Wincare machte und dann verscherbelte, jeweils in gutem Kommandoton erzählte, er werde den Angestellten das und das „kommunizieren“, wusste ich genau, was er meinte: Befehlsausgabe morgens um 6 vor dem Kasernentor. Kommunizieren ist eine Zweiwegaktion, das sagt das Wort selbst! Gemeinsam besprechen.

Velotürli: Via Bichelsee und Oberwangen: 19,5km, Vmax 37,8, Vø16,6, 1h11. Schön und warm.

Es sind wieder viele Velos unterwegs. In der Gruppe der mit Ü65 geschlagenen fahren die meisten eBikes. Wir mit unseren O-Bikes sind jetzt wieder das, was wir schon vor 52 Jahren waren: eine kleine radikale Minderheit. Man wird’s nicht los.

Im Telefon mit Schwester Ruth kommen wir darauf, dass wir eigentlich in einer CV-Informationsflut untergehen, eher orientierungslos angesichts sich widersprechender Meinungen, bei denen wir oft nicht wissen, was für Interessen dahinter stehen, was für Ideologien. Elo meint, sie sei jeweils am Morgen nach Radio, Zeitung und Internetzeitungen völlig deprimiert. Unser Schluss: Weniger ist hier mehr.

Ausserdem können wir es ja sowieso nicht ändern. Wir Ü65er sind definitiv nicht mehr gefragt. Das bekommen wir genug um die Ohren gehauen. Wir werden es dann bei Gelegenheit schon erfahren und erleben. So wären wir dann wieder bei der Weisheit von Elos „Onkel“ Gustav: „Über das, was du nicht ändern kannst, sollst du dich gar nicht erst aufregen.“ Die Kurzform des Gebets des amerikanischen Theologen Reinhold Niebur:

Gott, gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann,
den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann,
und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.

Sie haben jetzt wieder zu irgendeinem Thema im Zusammenhang mit Covid19 eine Task-Force gebildet. Ich habe den Überblick über die Arbeitsgruppen verloren, aber das ist auch egal. Solange sie eine Task-Force bilden, ist sicher alles in Ordnung, alles im Griff, kann ich jetzt beruhigt in den Feierabend und, wenn die Flasche dann leer ist, schlafen gehen. Proscht und guet Nacht!


Tag 31. Ostermontag, den 13.4.

Heue hat das Tagebuch coronafrei. Soweit das geht, da die Gedanken sich natürlich nicht im leeren Raum drehen, sondern in dem der Coronazeit.

Velotürli: Anwil – Littenheid – Wilen – St.Margarethen – heim. 21,9km , Vø16,7, Vmax43,4, 1h18. Schön, etwas kühler. Auf der Strasse manchmal wie Schneeflocken. Es sind die ersten Birnblütenblätter, die fallen.

Gymnastik mit Musik von Hänschen Bargeld – aber vielleicht sollte ich die Eindeutschung englischer Begriffe nicht übertreiben, denn der arme Johnny Cash kann ja nichts für die Angliszismen-Manie die jetzt wirklich ärger grassiert, als das CV.

Nie habe ich den Frühling so in einzelnen Schritten wahrgenommen, wie jetzt. Es sind ja immer die selben Bäume, Wiesen und Sträucher, und eben doch nicht gleich. Ich sehe an der Buche vor dem Fenster fast jedes Blatt einzeln spriessen (eine Hainbuche, die anderen Buchenarten kommen teilweise recht viel später), unterscheide die verschiedenen Grüntöne vom Gelb durchwirkten Weidenlaub bis zum dunkelgrün der Tannen, bemerke, wie der Löwenzahn auf der Wiese wieder 5cm höher ist, wodurch das Gelb satter wird, erfreue mich, dass jetzt auch Nachbars Birnbaum voll kommt, bemerke, dass ich am Dienstag den Rasen das erste Mal mähen muss. Die Primeln und Schlüsselblumen um den Weiher sind am Abblühen, ebenso die ersten Tulpen. Die Pfingstrosen drücken durch die Erde. Elo hat Bärlauch im Garten, den sie mit anderen frischen Kräutern zu einer Art „Grie Soss“ (Grüne Sosse) nach Frankfurter Art zubereitet. Geniessen hat eben viele Facetten.

Wir haben also in dieser verlangsamten Zeit, in der an Ungewöhnlichem so viel und doch so wenig geschieht, Zeit, uns das tägliche Leben anzusehen, es neu wahrzunehmen. War doch der Frühling in unserer hektischeren Lebensphase so, dass wir sein Ausbrechen zwar irgendwie wahrnahmen, aber dann war er plötzlich voll ausgebildet da. Gestern sahen wir noch durch die Äste auf den Hauweg, heute war der grüne Vorhang des Sommers plötzlich, Chlapf!, ausgebildet da.

Dieser Frühling bringt Erinnerungen hoch. So, als ich vor 54 Jahren meiner Geliebten, Elo schon damals, aus der Rekrutenschule einen Brief schrieb. Ich lag irgendwo am Waldrand an der Sonne und schrieb ihr, sie sei so schön, wie junges Buchenlaub in seinem zarten Grün. Ich könnte es so immer noch schreiben, schrieben wir uns noch Briefe[1], was wir akuell zum Glück nicht nötig haben.

[1] Wir schrieben damals in drei Jahren des getrennt Lebens 300. Beide!

Und noch etwas kommt mir, wie eigentlich in jedem Frühling, wenn ich die Vögel pfeifen höre, das Frühlingsgedicht des Thurgauer Bauerndichters Alfred Huggenberger[2], das wir bei Lehrer Knup auswendig lernten und das geblieben ist:

D’Amsle uf em tüere-n-Ascht
Hätt kei Rue me und kei Rascht.
Eismol isch-ere’s ums Singe.
„Chani’s ächt no füre-bringe?“

Lislig, lislig fot si a,
z‘erscht en Ton, es Schlänggerli dra,
z’letschte gits en ganze Satz,
Und etz blibt si nüm am Platz.

Flügt mit ihrem junge Gsang
z’oberscht uf e Wättertann.
Rüeft em Himel, rüeft de Ärde:
„Losed, es will Früelig wärde!“

[2] Huggenberger war wirklich Kleinbauer in Gerlikon bei Frauenfeld. Er wurde von der Blut-und-Boden Bewegung vereinnahmt, liess sich vereinnahmen. Aber er machte schöne Gedichte, wie Figura zeigt.

Tag 32. Dienstag, den 14.4.

Das Wetter ist weiterhin strahlend. Aber kalt. 10° weniger als gestern, starke Bise. Heute ist Spazieren angesagt. Und der angekündigte Regen blieb aus. Knochentrocken alles.

Dieser Tage wollte ich mit Freund Peter aus Biel in den Bregenzer Wald. Es wäre wohl wunderschön geworden. Wäre. Gestrichen, wie einiges.

Spanien öffnete gestern – der Ostermontag ist dort nicht Feiertag – die Fabriken wieder, hält aber an der weitgehenden, sehr strengen Ausgangssperre fest. Auch in Österreich gibt es Lockerungen der Massnahmen. Frankreich dagegen hält das Land weiterhin am Boden, bis 11. Mai. Die Türkei leert Gefängnisse. Aber wen lässt Erdogan raus? Die Spitzbuben, nicht aber die Journalisten und Lehrer, die er eingesperrt hat.

Italien bringt die versprochene Finanzhilfe nicht zu den Bürgern. Die legendäre Bürokratie des italienischen Staates leistet – gar nichts! Als die Anmeldeformulare online gingen, brach das EDV-System in Nullkommanichts zusammen. Ende der Fahnenstange.

Wir sind alle in Erwartung, was der Bundesrat am Donnerstag bekannt geben wird. Die Erwartungen sind gross, der Druck auf die Regierung entsprechend. Schulen? Wenn ja, welche Stufen? Kleinbetriebe? Wenn ja welche? Grossbetriebe? Die Aussagen der „Experten“ sind teilweise völlig unterschiedlich. Es wird nicht einfach sein für die Politik, hier eine Auswahl zu treffen. Dass etwas geschehen sollte, ist eigentlich unbestritten. Wir Ü65er, wir Coronioren, werden wohl hintanstehen müssen. Aber solange sie uns nicht weiter oder gar völlig wegsperren, ist es ja lebbar.

Es wird davor gewarnt, dass eine zweite Welle vermieden werden müsse. Wie hätten wir uns diese vorzustellen? Bei der Spanischen Grippe – die eigentlich eine amerikanische Grippe war – vor hundert Jahren sollen erst in dieser zweiten Welle die riesigen Todeszahlen gekommen sein. Und ein Zurück nach einer Lockerung wird wohl härter, als dies jetzt ist.

Zurzeit sind wir brav und werden vom Bundesrat gelobt.

Fast alle haben sich an die Anweisungen aus Bern gehalten. Der Gotthard war ruhig, das Tessin leer. Nur wir Ostschweizer meinten, wir müssten, wenn wir an die frische Luft gehen, mindestens ins Appenzellerland. Dort mussten sie die Strassen sperren wegen der Thurgauer, Zürcher, St.Galler. Die schweizweite Kritik daran wird die Region noch bekannter machen. Vielleicht kommen dann auch die Aargauer, Basler und Berner. Freu dich Herz und sing, wie meine Schwester Ruth zu sagen pflegt.

Elo meint, sie habe das Appenzellerland sowieso nicht gern, es geht immer bergauf. Und so hatten wir es als Füsiliere. Es ging immer bergauf, und wenn es bergab ging, dann nur, um nachher umso mehr bergauf zu gehen.

Aber weil wir mehrheitlich gehorchten, wird der Bund wohl für nach dem 26.4. Lockerungen planen.

Gekoppelt mit gezieltem Maskentragen, versteht sich. Aber das dauert noch etwas, da die Masken schlicht nicht lieferbar sind. Es fehlen die versprochenen Maschinen. Flawa in Flawil kann nicht liefern.

Elo fragt sich sowieso, wie das nach der Wiedereröffnung der Beizen gekoppelt mit Maskentragpflicht beim Essen und Trinken gehen soll. Vermutlich ähnlich, wie es schwer verschleierte Muslima tun müssen: sie heben den untersten Teil des Kopfschleiers und suchen die Futterklappe. (Wie es bei der Burka geht, die wir in Afghanistan schon 1974 gesehen haben, entzieht sich unserer Kenntnis. Wer sowas tragen muss, isst nicht öffentlich.)

Die Ölmultis und –staaten haben eine Drosselung der Förderung beschlossen. Die USA haben Saudiarabien stark unter Druck gesetzt, und als diese einstimmten, hat auch Mexiko mitgemacht. Nur die USA selbst, die mit ihren hohen Produktionskosten am meisten leiden, habe nur halbherzig zugesagt. Aber wer den „greatest Deal“ möglich gemacht hat, ist auch klar. Der Rückgang des Verbrauchs ist stärker als die Drosselung. Daher geht den Ölstaaten das Geld aus, sie können ihre Untertanen nicht mehr so grosszügig behandeln. Das gibt Druck. Daher ist unklar, wie und wie lange der Kompromiss hält. Ich habe da meine Bedenken, da auch in der OPEC und mit den USA stets das Hemd näher ist, als der Rock.

Profitieren tun im Moment die Schweizer Gemüsebauern, so sie denn die Ernte vom Feld bringen. Weniger Importe, mehr private Nachfrage (kompensiert den Beizen-Ausfall teilweise), Lockerung der Vorgaben, wie das Gemüse auszusehen hat (Grösse und Form).

Schwierige Zeiten haben die bösen Buben und Mädchen, die sich in fremden Haushalten bedienen wollen. Die Zahl der Einbrüche ist zurückgegangen. Wir sind halt mehr daheim, und das scheint zu nützen. Ausserdem wird auch hier der fehlende kleine Grenzverkehr seinen Einfluss haben. (Elo und ich, die oft monatelang weg waren, und die manchmal am Freitag wegfuhren und am Montag bei der Rückkehr feststellten, dass die Haustür offen war – wir hatten vergessen abzuschliessen, wobei für Elo immer klar war, wer vergessen hat! –, hatten bisher immer Glück. Keiner und keine wollten etwas von unseren Sachen, obwohl fast alle Häuser der direkten Nachbarschaft schon unangenehme Besuche hatten.)

Entgegen aller Prognosen haben wir in der Schweiz trotz Hausarrest weniger häusliche Gewalt. Oder zumindest weniger Meldungen. Warum? Im Ausland scheint es umgekehrt zu sein. Sind wir wirklich besser. Ich bezweifle es, aus Prinzip! Aber vielleicht halten die Täter und Täterinnen den Deckel besser auf der Pfanne, jetzt wo sie immer präsent sind. Wir werden es nachher wohl schon noch erfahren.

In den USA hat es einen chinesischen Tycoon erwischt. Er hat vor Jahren eine Kette mit 370 Kinos gekauft, um Geld ins Ausland zu bringen. Er wird wohl schon vorher auf der Kante gegangen sein, aber jetzt mit der Schliessung der Kinos hat es ihn überstellt. Etwa 4,5 Mia Schulden. In Amerika ist einfach alles grösser, auch wenn wir auch schon einen Herrn Rey hatten bei uns, mit 4 Milliarden Schulden. Wir brauchen uns also nicht zu verstecken, da haben unsere Nationalisten schon recht.

Die Sondersession des Parlaments im Mai, die jetzt in Bern vorbereitet wird, hat nur ein Thema (das gab es in Friedenszeiten wohl noch nie). Covid19.

SBB und Post wollen Kurzarbeitsentschädigung. Das ist umstritten, sagen doch die einen, staatsnahe Betriebe hätten kein Konkursrisiko und sollen direkt vom Staat alimentiert werden und nicht die Arbeitslosenkasse belasten, während die anderen sagen, die Leute von SBB und Post zahlten ja auch in diese Kasse. Ich halte es eher mit den einen, denn jetzt die Arbeitslosenkasse plündern, um dann wieder Profite machen zu müssen, statt Dienstleistungen zu finanzieren, geht mir nicht ganz auf.

Der Internationale Währungsfonds IMF stützt die 25 ärmsten Länder der Welt, indem er ihnen Aufschub gibt, um Schuldzinsen zu zahlen. Allerdings nur für ein halbes Jahr. Das reicht mit Sicherheit nirgends hin.

Im kleinen Weiher hat es wieder Hunderte von Rossköpfen (Kaulquappen heissen sie offiziell). Sie werden dann bis im Sommer wieder von den Goldfischen gefressen sein, oder von den Molchen, oder von den Libellenlarven. Der Frosch hat sich wieder verzogen. Er hat offensichtlich seine Pflicht getan.

Spaziergang: Freudenberg- Münchwilen – an der Murg entlang zurück. 1h10. Schön, aber kalte Bise, stark.

Es war beim Spazieren wie in einem englischen Wohnzimmer mit Cheminée-Feuerung. Zuerst gegen die Bise war es zwar umgekehrt: warmer Hintern und kalter Bauch, auf dem Rückweg dann aber richtig: vorne warm und hinten saukalt.

Alles geht jetzt digital. Die Konzerte, die Schule, das Geld, Kirche&Papst, Sprechstunden der Ärztinnen, Apotheken, Einkaufen. Pfarrer sehen auf den Bildern aus wie Geisterbeschwörer, was sie ja in gewissem Sinne immer waren. Und wir wissen nicht, wohin das langfristig führt. Ein Gespräch über den Bildschirm kann doch den direkten Kontakt nicht ersetzen. Digital Networking ist doch – und hier lasse ich den schrecklichen englischen Begriff bewusst stehen – nur ein Surrogat, ein blasser Ersatz.

Das BAG hat seit diesem Monat, wohl seit längerem vorbereitet, ein Abteilung für digitale Transformation, was immer das auch sein mag. Wer oder was wird da umgewandelt? Beamten- und/oder „Experten“Kauderwelsch.

Viral virtuell – so reisen wir jetzt. Corona getrieben elektronisch. Denn auch wir können uns der Digitalisierung nicht entziehen. Eingeschlossen in einen Perimeter von gut 10km Durchmesser, den wir täglich zu Fuss oder mit dem Velo ausmessen, machen wir grössere Distanzen jetzt auf dem Bildschirm. Denn Reisen sind wir uns gewöhnt. Und zwar tun wir das virtuell nicht mit Dokus in Arte etc., sondern im Eigenbau. Wir sehen uns die Tausenden von Bildern an, die wir in rund 20 Jahren, seit ich von Rollfilm auf Bits and Bites umgestellt habe, sammelten und gut organisiert auf der Festplatte ablegten. Bei schöner Musik aus dem iPod, auf den ich einmal alle unsere Platten geladen habe, die ich – wohl in weiser Voraussicht auf Covid19 – in grosser Arbeit vor Jahren digitalisierte. Bei einem guten Glas Bachtobler oder auch zwei geht es retrospektiv rund um die Welt. Buchstäblich. Schön.

In einem Gastkommentar über Corona in Südtirol zitiert die Ärztin Barbara Dirhold Benjamin Franklin: „Wer bereit ist, Freiheit zu opfern, um Sicherheit zu gewinnen, verdient weder das eine noch das andere und wird am Ende beides verlieren.“


Tag 33. Mittwoch, den 15.4.

Immer wieder hören wir in dieser Zeit einen Satz, dem ich seit je misstraute: Gesundheit ist das Wichtigste. Das Wichtigste? Ist es denn nicht die Zufriedenheit, die uns glücklich macht. Und hat Zufriedenheit in erster Linie etwas mit Gesundheit zu tun? Sind nicht Gesunde in Scharen unzufrieden, und können nicht Kranke oder Behinderte sehr zufrieden sein und Gelassenheit ausstrahlen, um die sie Gesunde – ebenso wie Reiche – beneiden können.

Damit will ich in keiner Weise dem Fatalismus das Wort reden, dass sich Arme und Geplagte am besten in ihr Geschick fügen sollen, die Reichen und Bevorzugten würden es dann schon richten. Nein, zur Zufriedenheit gehört mit Sicherheit auch, sein Geschick in die eigene Hand zu nehmen und jenen den Marsch zu blasen, die sich diesem Geschick entgegenstellen. Aber ein möglichst selbst bestimmtes Leben zu führen, sich mit Nachdruck einzubringen und sich nicht von Dritten auf der Kappe rumtanzen zu lassen, auch das ist ein Element, das zur Zufriedenheit führt.

Gesundheit ist übrigens ein sehr individuelles Gut, auch wenn gesellschaftliche Verhältnisse viel dazu beitragen, ob wir sie haben oder nicht. Aber wir sind, wenn wir Mensch sein wollen, gesellschaftliche Wesen, die sich individuell nur sehr beschränkt verwirklichen können. Das erleben viele von uns gerade in diesen Tagen und Monaten.

Vielleicht ist auch der Begriff Zufriedenheit nicht der richtige, der mir womöglich fehlt. Aber ich bin sicher, dass Gesundheit allein nicht das höchste Gut sein kann. Zu teuer erkaufen wir es uns in verschiedenen Situationen.

Heute Nacht hatten wir leichten Frost. Ich habe die Rosen gedeckt, damit mir die neuen Knospen nicht auch noch abfrieren. Putztag. Wir werken uns durchs Haus, schwitzen und lassen die Gymnastik für diesen Tag.

In Österreich scheint es jetzt genügend WC-Papier zu geben. Auf jeden Fall erfolgte der Ansturm bei der Wiedereröffnung der Läden nicht auf Toilettenartikel, sondern auf die Baumärkte. Da scheinen in eingeschlossenen Zeiten häusliche Mängel en masse hervorgekommen zu sein.

Dänemark lässt die Kinder bis zur 5. Klasse (von unten) wieder zur Schule, allerdings mit Coronaregeln bezüglich Gruppengrösse, Abstand usw. Sie wollen die jungen Eltern entlasten und ihnen die Möglichkeit geben, zu arbeiten.

Trump streicht der WHO das Geld. Er braucht ja einen Sündenbock, und die WHO, die China gelobt hat, eignet sich da gut. Dass er die Pandemie-Erklärung anfangs Februar nicht zur Kenntnis genommen hat, wird er vergessen haben, will er vergessen machen. Ausserdem treibt er ein übles Spiel mit den Gouverneuren der Gliedstaaten. Freund Markus Müller, der im äussersten Westen der Staaten wohnt, bestätigt meine schon vorher gehabte spontane Vermutung: „Nach den gestrigen und der heutigen ‚News‘ also called presidential campaign Konferenzen, scheint es mir so zu laufen: Die Trump Administration wird in den naechsten Tagen vorgeben, was die Governeure punkto Rueckkehr vom Lock-Down machen muessen, die Governeure werden diesen Empfehlungen mehr oder weniger folgen. Wenn's funktioniert, wird es dank Trump passieren. Wenn es nicht funktioniert (was wohl eher der Fall sein wird), werden die Governeure dafuer verantwortlich sein. A so-called win win situation for the President. Und im schlimmsten Fall hat er ja noch Yvanka und Jared. Die werden es schon richten.“

Markus glaubt nicht, dass Biden am Schluss der Kandidat der Demokraten sein wird. „Ich waere wirklich ueberrascht, wenn es zur Auswahl Biden Trump kommt. Biden ist so schwach, dass die Demokraten jemanden anders finden muessen.“ Ob hier der Wunsch der Vater des Gedankens ist? Wir müssen sehen. Dass Biden sackschwach ist, ist offensichtlich.

Wieder habe ich ein neues Wort und einer mir neuen Bewegung kennengelernt: „Prepper“. Das sind Leute, die sich durch Anlegen von Notvorräten individuell auf Katastrophen vorbereiten, to be prepared, vorbereitet sein also. Entstanden ist das Zeugs in den USA – wo sonst? – in den 70er Jahren, als sich Rechtsextreme auf eine angebliche linke Revolution vorbereiteten. In Deutschland ist die Szene den Rechtsextremen nahe, den Identitären. Es soll in der Schweiz einige Tausend geben, womit die Sache wohl eher gegen die politische Mitte gerückt ist, zu denen, die allen Katastrophenszenarien sowieso glauben. Die Coronakrise ist für die harten Prepper nicht ideal, da sie in solchen Zeiten auf die Hilfe Dritter angewiesen sind und ihrem Ideal der „individuellen Selbstermächtigung“ nicht nachleben können.

Es wird mit einer starken Rezession gerechnet, mit 3% Schrumpfen der Weltwirtschaft. Was das bedeutet, kann ich mir nicht so recht vorstellen.

Die Gewerkschaften stellen am Tag, bevor der Bundesrat das weitere Vorgehen berät und beschliesst, ihre Forderungen auf: Sie wollen, dass Kurzarbeiter 100% ihres Lohnes bekommen, denn 80% sei für Viele zu wenig. Sie wollen, dass für die Einkommensschwachen die Krankenkassenbeiträge übernommen werden, und sie wollen, dass in Firmen, die Kurzarbeitsunterstützung beziehen, nicht gekündigt werden kann.

Das Radio bringt am Mittag im Tagesgespräch das erste Interview zu einem Nicht-CV-Thema. Gast ist die erste Frau, die einen Eishockey-Club führt, den Schlittschuh-Club Bern SCB.

Spaziergang: Rosetwaldrand – Luttenberg – Gupfen – Murg – Tennisplatz – heim. 1h30. Schön, etwas wärmer.

Es ist beim Spazieren auffallend, dass mein Gruss, den ich immer erbiete, mehr abgenommen und erwidert wird als vor CV. Wir gehen uns aus dem Weg, wie es sich gehört, aber praktisch immer mit einem freundlichen Lächeln. Mitgegangen, mitgehangen.

Beim Öliweiher sehe ich eine für hier neue Raubvogelart. Flügel und Schwungfedern wie ein Bussard, auch ähnliche Grösse, leicht gegabelter Schwanz, rot von unten, weisser Kopf wie ein Fischadler in Amerika, und mittig quer über die Flügel ein weisses Band, das etwa einen Drittel der Schwinge einnimmt. Er fliegt und kreist tief, zeigt sich uns schön. Ich habe einmal ein Exemplar am Ottenberg bei Weinfelden gesehen, als ich bei der Weinlese, dem Wümmet, half. Als wir nahe beim Haus sind, kreisen sie zu zweit hoch über dem Oberdorf. Ein Paar also. Ich habe im Internet nach der Art gesucht, wurde aber nicht fündig.

Überall geht es jetzt um die Lockerung. Bei uns werden wir morgen erfahren, was die Regierung beschlossen hat. In der Tagesschau wird berichtet, aus dem Departement Berset sei dies und jenes durchgesickert, was er morgen dem Gremium vorschlagen werde. Dass es aus einem Departement „rinnt“, ist das erste Mal seit Beginn der CV-Krise. Kein gutes Zeichen, vielleicht aber auch einfach ein Schritt in Richtung Normalität.

Es soll 12 bis 18 Monate gehen, bis wir einen oder mehrere Impfstoffe haben. Was heisst das? Was heisst das für uns?

In Deutschland wird die Rückführung in kleinen Schritten erfolgen: Läden bis 800 m2 können öffnen, Schulen bleiben bis Mai geschlossen, die Kultusminister sollen einen Plan für die schrittweise Öffnung machen. Die Kontaktbeschränkungen bleiben, Grossveranstaltungen sind bis September verboten. Maskentragen ist kein Gebot aber eine Empfehlung.

Deutschland will für die Schulen die Öffnung von altersmässig oben nach unten, im Gegensatz zu Dänemark, das von unten nach oben öffnet. Und die Schweiz? Aus der Mitte?

Das lock up des lock downs wird wohl ein steiniger, ein langer Weg.


Tag 34. Donnerstag, den 16.4.

Lock down heisst es heute. Das was uns Ü65er betrifft, hiess in der Schule „dinehocke“.

Gestern hat die zuständige Parlamentskommission mit Zustimmung aller Parteien (!) beschlossen, einen Bundesratsbeschluss zu übersteuern, und den Kitas 100 Mio zukommen zu lassen. Hoffentlich hält dieser Konsens auch in der Zukunft.

Die Pensionskassen wollen gewerblichen Mietern entgegenkommen und die Mieten unter gewissen Bedingungen, was immer das ist, erlassen. Das ist ja auch schlau, denn es ist besser, wenn die Mieter auch langfristig Mieter bleiben und nicht Pleitiers werden. Ausgenommen sind Grossmieter, so die Versicherer, die das auch machen.

Der Grossverbrauch an Desinfektionsmitteln belastet die Abwässer. Zuhause würde es Warmwasser und Seife auch tun.

Die Intensivstationen sind nicht so stark belegt, wie befürchtet. Zum Glück. Aber die Vorratshaltung, die nötig war, bereitet den Spitälern ein erhebliches Finanzloch. Die Kantone müssen einspringen. Der Kanton Thurgau hat 20 von 50 Millionen Sonderbudget, das er dem Grossrat unterbreitet, dafür vorgesehen. Es werde wohl nur knapp reichen, meint Köby Stark, der Finanzminister.

Der Absatz der Ostschweizer Winzer stagniert. Die Beizen und Anlässe fehlen. Unseren Hauptlieferanten, das Schlossgut Bachtobel, trifft es weniger, hat er doch, wie Johannes Meier in der Thurgauer Zeitung erklärt, 70% Privatkunden. Wir sind jetzt auf diesem Gebiet aktiv.

Der Verein Thurkultur zur Unterstützung lokaler Kulturschaffender und –veranstalter, den ich mal initiiert und aufgebaut habe, zahlt bereits gesprochene Beiträge aus, auch wenn die Veranstaltungen und Projekte nicht durchgeführt werden konnten. So gehört es sich.

Die Debatte um die Testerei unter Virologen und allen, die sich Experten wähnen, geht weiter. Während der Lausanner Virologe Salathé, der sich seit Beginn der Krise sehr stark in die Diskussion einbringt, viel mehr Tests fordert, ist der St.Galler Kollege Vernazza, dem wir mehr vertrauen, zurückhaltender. Er meint, die Zahl der Hospitalisationen sei ein besserer Indikator als die Zahl der als infiziert Gemeldeten, hänge diese doch stark von der schwankenden Zahl der Tests ab. Wichtiger als das Testen auf Ansteckung sei das Testen überstandener Krankheitsfälle, Antikörpertests, um festzustellen, wer alles die Krankheit nicht nur manifest hat, sondern hatte. Dies zeige die Immunitätsrate der Bevölkerung. Und am Wichtigsten sei die Isolation von Personen mit auch nur milden Symptomen.

Die Arbeitslosenquote steigt weiter. Und sie steigt am meisten bei den 20-30jährigen, die es am heftigsten trifft. Das sollten wir Alten auch bedenken.

Die EPFL in Lausanne, die Schwesteruni der ETH, bleibt für den Unterricht bis September zu.

Ein weiterer Neubegriff: „Contact Tracing“, Aufspüren von Kontakten, das Feststellen also, wer bei einem festgestellten Infektionsfall mit dieser Person vorher Kontakt hatte. Im grossen Stil geht das nur über die vieldiskutierten Natel-Apps, und diese funktionieren nur, wenn sehr viele mitmachen. Die NZZ meint, das ginge nur, wenn die App vom Bund komme. Recht hat sie. Wann? Mein Natel ist immer zuhause, bei mir würde es wenig nützen.

England verlängert die Massnahmen um drei Wochen.

Heute der erste reguläre Stau auf dem Zürcher Nordring. Auch dies ein Zeichen für die schrittweise Rückkehr des Alltags.

Velotürli: Bichelsee, Oberwangen, Murg. 19,7km, Vmax 32,7, Vø 16,0, 1h15. Schön, Schleierwolken, warm, wechselnder Wind.

Rasen gemäht, 10‘ Handmäher, Löwenzahn gestochen, 15‘ Messerklinge, knochentrocken.

Jetzt hat der Bundesrat informiert. Es ist die wichtigste Pressekonferenz seit Einleitung der Massnahmen. Das haben Sommaruga, Berset und Parmelin bekannt gegeben:

ab 26.4.

  • können Coiffeure, Blumenläden, Gartencenter, Baumärkte wieder öffnen,
  • Ärzte, Zahnärzte, Physiotherapeuten, Masseurinnen, selbständige Handwerker wieder arbeiten
  • sind in Spitälern alle Operationen wieder möglich
  • können Grossverteiler das ganze Sortiment anbieten
  • sollen wieder Märkte durchgeführt werden,

ab 11. Mai

  • werden die obligatorischen Schulen unter Auflagen wieder geöffnet
  • dürfen alle Läden öffnen

ab 8. Juni

  • dürfen alle Schulen, d.h. auch Gymnasien und Universitäten, wieder unterrichten,
  • sind Museen, Bibliotheken und Zoos wieder offen.

Die Schritte für den 11.5. und 8.6. werden entsprechend der Entwicklung überprüfte

Bei den Masken bleibt der Bundesrat bei seiner Linie. Es kann sein, dass in gewissen Situationen Masken nötig sind (Spital oder je nach Branche). Eine Pflicht gibt es aber nicht. Das wohl auch, weil der eh schon angespannte Markt für Masken nicht noch zusätzlich belastet werden soll.

Lehrabschlussprüfungen werden generell nicht schriftlich durchgeführt. Praktisch dort, wo dies möglich ist, sonst zählen die Beurteilungen der Lehrbetriebe.

Die Begründung für die spätere Öffnung der höheren Bildung liegt auch darin, dass diese Schüler und Studenten meist auf den ÖV angewiesen sind, der nicht zu schnell hochgefahren werden soll.

300 bis 400 Soldaten dürfen heim, sind aber noch in Reserve.

Es gibt ein Nationales Forschungsprogramm zu Covid19.

Selbständig Erwerbende mit Einzelfirmen wie Taxis, Grafiker usw. erhalten Geld. Aber nur, wenn sie 2019 unter 90‘000 Franken versteuert haben.

Für Grenzüberquerungen durch Schweizer wurde klargestellt, dass diese im familiären Bereich ohne Einschränkung schweizerischerseits nicht behindert werden. Einkaufstourismus wird mit 100 Franken Busse bestraft; die Grenzer haben so schon genug zu tun.

Offen bleibt, wann Restaurants und Hotels geöffnet werden, die Grenzbeschränkungen nicht mehr gelten, das Versammlungsverbot über 5 Personen aufgehoben wird. Eine Lockerung gibt es allenfalls am 8. Juni.

Für das Contact Tracing will der Bund eine App einrichten. Wann?

Alles in allem: Der Bundesrat macht eine offensichtlich gute Etappierung, lässt sich nicht unter Druck setzen und wählt also einen Mittelweg zwischen Österreich und Deutschland einerseits und Frankreich sowie Grossbritannien. Ein guter Schweizer Mittelweg. „Nume nid gschprängt, aber gäng achli hü.“

Im Fernsehinterview war Berset einmal mehr souverän. Er hatte klare Antworten und liess sich von seiner Linie nicht abbringen. Was nötig und was möglich ist, wird getan. Auf die Frage nach den Restaurants meinte er, es mache wenig Sinn, zu öffnen, wenn man an der Bar oder am Wirtstisch zwei Meter Abstand halten müsse.

Die Reaktionen auf die Massnahmen sind grossmehrheitlich positiv. Dass der Gewerbeverein bemängelt, dass die Grossverteiler alles dürfen, die KMUs aber erst ab 11.5., ist verständlich. Dass der Herr Bigler aber sagt, das sei „inaktzeptabel“, ist Blödsinn. Was will er machen? Und dass der SVP-Fraktionspräsident stereotyp das Mantra seiner Vorbeterin nach mehr Masken leiert, erstaunt auch wenig. Warum die sich als schweizerischste aller Schweizer Parteien so sehr über den eher vorsichtigen Kurs der Landesregierung auslässt, zeigt, dass sie den Charakter unseres Landes langsam aber sicher aus den Augen verliert.

Elo fragt sich, warum ausgerechnet die Coiffeure, die so nahen Körperkontakt haben, öffnen sollen. Ich kann es nicht erklären. Es wird wohl nichts schaden, und Schönheit ist in dieser abgeschlossenen Zeit ein wichtiges Ding.

Über uns ü65 wird nichts gesagt. Das Motto ist daher weiterhin „dinehocke“. Aber es ist ja ein auszuhaltender Arrest. Und es gibt jetzt wichtigere Massnahmen.

Soweit der Bundesrat zum lock up des lock down.

In den USA sind jetzt 22 Mio Menschen arbeitslos, die Quote stieg von 3,5 auf 14%. Ob da die chinesischen Geisterbeschwörungen des Zampano in Washington helfen, wird sich zeigen. Es ist aber zu befürchten.

In Deutschland schert der Ministerpräsident von NRW, Laschet, immer wieder aus der Gilde der Bundesländer aus und will sich profilieren. Er will ja Merkels Nachfolger werden. Aber für diesen Posten, so zeigt es sich jetzt, ist er unbrauchbar. Dafür Söder? In viralen Zeiten drängt sich da der Vergleich der Wahl zwischen Pest und Cholera auf. Aber auf Merkel ist ja Verlass. Sie wird schon noch zwei, drei verheizen, die auf ihren Sessel krabbeln wollen.

Im Wetterbericht von DRS kommen immer wieder Zuseherbilder. „Augenzeuge“ heisst es dann. Bisher verband ich diesen Begriff immer mit „Unglücksfälle&Verbrechen“. Und dann zeigen sie ästhetische Bilder. Sprache ist, auch hier, Glücksache.


Tag 35. Freitag, den 16.4.

Am Tag nach der Ankündigung freuen sich die einen, die anderen lecken Wunden. Zu letzteren gehören insbesondere die Gastwirte, die gerne einen Termin zur Wiedereröffnung gesehen hätten. Sie meinen, auf Terrassen könnte man doch, in den Lokalen könnte man doch. Aber das wollte vermutlich der Bundesrat gerade verhindern, nämlich dass jetzt bei schönem Wetter relativ unkontrolliert das Beizentreiben wieder beginnt. Wenn wir uns an die anderen Dinge wieder etwas gewöhnt haben, ist dann noch Zeit genug. Für die Wirte ist es allerdings hart, auch wenn ich – ausser den Bauern – keinen Verband kenne, der das Klagen so perfektioniert hat. Und auch die Drohszene vom massenhaften Beizensterben ist relativ zu nehmen. Zu Normalzeiten wechselt im Kanton Thurgau im Jahresablauf jedes vierte Lokal seinen Betreiber. 25% der Wirtschaften gehen also ein.

Easy Jet, die Firma, die vom Bund Geld will, hat insgesamt 3,5 Mia£ Reserven (über 4 Mia Franken). Warum müssen wir da noch Geld zuschiessen? Bei der Swiss stellt sich die Frage analog.

Moskau hat seine Zweite Weltkrieg-Siegesparade vom 9. Mai abgesagt.

Velotürli: Anwil – Littenheid – Wilen – St.Margarethen und heim. 22km, Vø 17,1, Vmax 42,1, 1h17. Leicht bewölkt, wenig Wind.

An der Murg plötzlich eine Welle betörenden Duftes. Der wilde Flieder ist voll erblüht.

Die These, dass Covid19 nicht einem Markt für Wildtiere, sondern einem Labor in Wuhan entschlüpft sei, nimmt wieder Fahrt auf. Was ist richtig? Richtig ist sicher, dass die „normale“ Informationspolitik der chinesischen Machthaber Spekulationen Tür und Tor öffnet. Und bei der sattsam bekannten Wahrheitsliebe des amerikanischen Pendants genauso. Wir stehen dazwischen und wissen nicht, was wir glauben sollen.

Sicher ist nur, dass wir nun das Zeugs auf der ganzen Welt verteilt haben und es so schnell nicht los werden.

Was mich vor allem stört, sind nicht meine aktuellen Lebensumstände. Die sind ja ganz gut. Es ist – ähnlich wie bei den Wirten – die fehlende Zeitperspektive, die mir nicht sagen kann, wie lange es noch geht, bis ich wieder einigermassen selbständig entscheiden kann.

Das Leben auf Distanz ist auf die Dauer keines.

Das Bild ist symptomatisch und die Legende idiotisch. Wie sollen wir ihnen entgegenkommen, wenn wir durch Mauern abgetrennt sind? Müssen wir alten Chläuse erst noch ein soziales Klettertraining absolvieren?

Ich lebe in einem verschonten Kanton. Nur Schaffhausen hat weniger Kranke pro 100‘000 Einwohner. Oder liegt es daran, dass bei uns einfach weniger getestet wird und es daher weniger Meldungen gibt. Aus Deutschland und Österreich schwappt aber offensichtlich weniger über die Grenze, als aus Italien und Frankreich. In der Romandie haben sie mehr Geduld mit den Massnahmen. Die Karte erklärt es.

Hospitalisiert sind vorab Alte. Dass die Spitäler unterbelegt sind, ist ein Indiz dafür, dass die Abschottungsstrategie wirkt.

_____________________________________________

Die Daten:

Datum

Erkrankungen

Diff. Vortag

Diff. Vortag %

Verstorben

Zunahme

Sterberate %

Diff. Vortag

21.3.

6113



56


0,91


22.3.

7014

+901


60

4

0,86

-0,05

23.3.

8060

+986

+7,4

66

6

0,81

-0,05

24.3.

8836

+776

-21,3

86

20

0,97

+0,16

25.3.

9765

+929

+19,8

103

17

1,05

+0,08

26.3.

10714

+949

+2,2

161

58

1,50

+0,45

27.3.

12161

+1447

+52,5

197

36

1,62

+0,12

28.3.

13213

+1152

-20,4

235

38

1,92

+0,30

29.3.

14336

+1123

-2,5

257

22

1,79

-0,13

30.3.

15475

+1139

+1,4

295

38

1,91

+0,12

31.3.

16176

+701

-38,4

373

78

2,31

+0,4

1.4.

17139

+963

+37,4

378

5

2,21

-0,1

2.4.

18267

+1028

+6,7

432

54

2,36

+0,15

3.4.

19303

+1036

+5,7

484

52

2,51

+0,15

4.4.

20278

+975

-5,9

540

56

2,66

+0,15

5.4.

21100

+832

-14,7

559

19

2,66

-

6.4.

21652

+552

-33,7

584

25

2,70

+0,04

7.4.

22242

+590

+6,9

641

57

2,88

+0,18

8.4.

22789

+547

-7,3

705

64

3,10

+0,22

9.4.

23574

+785

+43,5

756

51

3,34

+0,33

10.4.

????







11.4.

24308

+734

-6,5

805

52

3,31

-0,03

12.4.

24900

+592

-19,3

831

26

3,33

+0,02

13.4.

25300

+400

-32,4

858

27

3,39

+0,06

14.4.

25834

+534

+33,5

900

48

3,48

+0,09

15.4.

26336

+502

-6

973

73

3,69

+0,31

16.4.

26732

+396

-21,1

1017

44

3,80

+0,11

17.4.

27078

+336

-15,2

1059

43

3,91

+0,11

Ich schliesse diese Tabelle jetzt ab, da die Zahlen wegen ungewisser Meldepraxis stark schwanken und die Todesrate mit abnehmender Infektionszahl zunehmen sollte. Ausserdem wissen wir nicht, wie stark die Infektionsraten durch veränderte Testpraxis beeinflusst werden.


17.4.2020/JB.